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Kommentar von Alexander S. Emanuely

Übersee-Utopien

Eine kurze Geschichte der Vision „Amerika“.
Der Schriftsteller und Politologe Alexander Emanuely rollt die Geschichte des Amerikabildes wieder auf und begibt sich auf die Spuren der einstigen (europäischen) Visionäre.


Die USA stellten lange die wahr gewordene Utopie der Europäer dar. Das, was in Europa heutzutage so selbstverständlich ist, wie Demokratie, Rechtsstaat, Presse- und Religionsfreiheit, kurzum die bürgerliche Gesellschaft, wurde das erste Mal in den USA getestet, diskutiert und im Laufe der ersten Jahrzehnte ihres Bestehens auch umgesetzt. Mittlerweile ist der Große Teich leicht zu überqueren, die Vorstellungen von Politik, Moral oder Kultur sind dagegen immer weiter voneinander abgerückt. Noch nie waren Europa und Amerika so weit voneinander entfernt. Mit der süd-östlichen EU-Erweiterung kommt jedoch eine ideologische „West-erweiterung“ zurück, die auch die EU spaltet. Der Schriftsteller und Politologe Alexander Emanuely rollt die Geschichte des Amerikabildes wieder auf und begibt sich auf die Spuren der einstigen (europäischen) Visionäre.

Karl Marx schrieb 1853 in der „New York Daily Tribune“, dass er nichts gegen eine amerikanische Einmischung in Europa habe, da für ihn Amerika der „kräftigste Repräsentant des Westens“ sei, welcher der „Barbarei des Ostens“ ein Ende setzen könne. Damit waren vielleicht nur Russland und das Osmanische Reich gemeint, das damalige Europa war jedoch gesellschaftspolitisch ähnlich rückständig und despotisch. Statt auf diese Einmischung zu warten, flohen die meisten Europäer lieber direkt in die Neue Welt. Denn all das, was in Europa undenkbar und nicht umsetzbar schien, war auf der anderen Seite des Großen Teiches zuerst auf beeindruckende Weise erkämpft und dann erfolgreich realisiert worden. Die USA stellten die wahr gewordene Utopie und Projektionsfläche utopischer Ideen dar. Zwei große Flüchtlingswellen, jene im Jahrhundert der Aufklärung und jene nach den erfolglosen Revolutionen von 1830 und 1848, haben Amerika grundsätzlich geprägt. Aber nicht nur als Hoffungsträger existierte Amerika, auch der europäische Antiamerikanismus hatte von Anfang an seine Anhänger. Logischerweise gerade unter den Mitgliedern und Freunden der alten feudalen und absolutistischen Ordnung, die nach dem Scheitern der Französischen Revolution und in den Zeiten der Restauration und des Biedermeiers wieder die Geschicke Europas lenkten. Die amerikanisch-europäische Geschichte nimmt ihren Anfang. Die erste Welle  In den USA erinnert man sich bis heute, dass am Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg von 1775 bis 1783 so mancher aus der Alten Welt federführend beteiligt war. Etliche Städte, Parks, Gedenkstätten und Paraden sind nach europäischen Helden aus dieser Zeit benannt, etwa nach dem Briten Paine, dem Franzosen La Fayette, dem Preußen von Steuben oder dem Polen Kościuszko. Das Typische an dieser ersten Generation war, dass sie nach dem Sieg wieder nach Europa zurückkehrte, um für die „Sache“ weiterzukämpfen: La Fayette 1789 in Paris und Kościuszko 1791 in Polen, wo er noch einige Monate vor den Franzosen eine moderne Verfassung in Kraft setzte, die somit die erste gültige in Europa werden sollte. Und Paine galt seinerseits als Gründervater der Arbeiterbewegung in England und in Frankreich. Damals dachte – und kämpfte – man eben noch kosmopolitisch. Doch wer waren diese Leute? Wie kamen sie dazu, zuerst nach Amerika zu gehen, bevor sie die Revolution nach Europa zurückbringen sollten? Eine zentrale Rolle spielt in diesem Zusammenhang Benjamin Franklin, der von 1776 bis 1785 Gesandter der Amerikanischen Republik in Paris war. Franklin war Philosoph und ein Freund Voltaires. Franklin hatte kein gepudertes Haar, und sein Gesicht, hieß es, war seinen französischen Zeitgenossen genauso bekannt wie der Mond. Auch verglichen sie ihn mit Plato, Brutus und Cato. Dass Franklin aus kleinbürgerlichen Verhältnissen kam und es zum Diplomaten und allseits anerkannten Denker gebracht hatte, dürfte der Kern dieser ungewöhnlichen Bewunderung gewesen sein. Er hatte eine Karriere hinter sich, die zu diesem Zeitpunkt in Europa – mit Ausnahme vielleicht von Großbritannien und der Schweiz – unmöglich gewesen wäre. Franklin bewies auch, dass er eine gute Nase für Talente hatte. Mit Thomas Paine fand er einen großartigen Publizisten und Denker; mit dem Marquis de La Fayette einen reichen Träumer mit guten Kontakten zum Versailler Hof, der schlussendlich das Amerikanisch-Französische Bündnis gegen Großbritannien zustande bringen sollte; mit Baron von Steuben jenen preußischen Offizier, ohne dessen Organisationstalent die amerikanische Revolutionsarmee wohl nicht sehr weit gekommen wäre; und mit Tadeusz Kościuszko einen kultivierten Festungsbauer und Haudegen. Diese wenigen Namen stehen für viele weitere, die zu dieser Zeit von London, Paris, Berlin und Warschau nach Amerika aufbrachen, um dort nicht nur ihr eigenes Glück, sondern vor allem jenes für die Menschheit zu finden. Die zweite Welle  In den 1820er Jahren wurden in Europa die Ideen der bürgerlichen Gesellschaft durch jene einer sozialen, egalitären ergänzt. Mit Charles Fourier, Saint-Simon (der an der Seite La Fayettes gekämpft hatte) und schließlich Marx und Engels wurde der Sozialismus geboren. Schon mit Thomas Paine hatte es eine direkte Beziehung zu diesem beziehungsweise seinen Vorläufern gegeben. In Großbritannien wurde 1792 von Arbeitern und Handwerkern die von Paine inspirierte „Corresponding Society“ gegründet. Nach sieben Jahren und bis 1825 wurde sie vor allem deswegen verboten, weil sie zu ihrer Glanzzeit bis zu 150.000 Menschen auf die Straße gebracht hatte. Diese erste organisierte Arbeiterbewegung solidarisierte sich sofort mit der Amerikanischen und der Französischen Revolution. So paradox es auch klingen mag: Im 19. Jahrhundert waren die USA das „Bauern- und Arbeiterparadies“, zumindest in den Köpfen der europäischen Arbeiter und mancher Intellektueller. Vielleicht auch weil in den USA die ersten Modelle frühsozialistischer Utopie umgesetzt werden konnten. Ermutigt war diese Entwicklung sicherlich durch die Einstellung von Teilen der amerikanischen Elite worden, allen voran Thomas Jefferson, der im Jahr 1800 Präsident werden sollte. Diese sahen die Zukunft des Landes in seiner Weite, wo Platz für alle möglichen auf Landwirtschaft, Handwerk und Kleinindustrie basierenden Gemeinschaften sein sollte. Herzog Bernhard zu Sachsen-Weimar-Eisenach, ein enger Freund Goethes, sollte in seinem Reisetagebuch das Amerika der 1820er Jahre und ebendiese Haltung beschreiben. In dieser von Goethe besprochenen Schrift kommen das allgemein hohe Bildungsniveau und das soziale Gleichgewicht in vielen Gemeinden und Städten der USA zum Ausdruck – Errungenschaften, die sich im Laufe der Zeit nicht wirklich erhalten sollten. Damals ging Goethe auf jeden Fall so weit zu sagen, dass er, wäre er 20 Jahre jünger, sofort ausgewandert wäre. In Europa brachen dafür im Jahr 1848 wieder Revolutionen aus. Während in Frankreich die II. Republik einige Jahre am Leben blieb, wurde die Republik in Deutschland ziemlich bald blutig niedergeschlagen. Viele Tausende Deutsche flohen über Paris und London nach Amerika und manche von ihnen sollten den USA ihren Stempel aufdrücken. Vom Pöbel und vom Mammon  Die Neue Welt, sobald sie sich emanzipiert hatte, war vor allem für die europäischen Eliten eine beunruhigende, weil für ihre kritischen Untertanen viel zu verlockende Erscheinung. Nicht nur, dass ihnen ein ganzer Weltteil außer Kontrolle geraten war, entwickelte sich auch noch auf der anderen Seite des Großen Teiches ein alternatives Gesellschaftsmodell, welches das ihre grundlegend in Frage stellte. Der „Pöbel“ hatte plötzlich die Herrschaft erlangt. Nicht die Abstammung bestimmte das Schicksal des Einzelnen, sondern allein seine Fähigkeiten. Um dem entgegenzuwirken, wurde Amerika zuerst einmal in jeder Hinsicht diskreditiert. Dieser Abwertung war jedoch nur beschränkter Erfolg beschieden, da der Informationsfluss aus der Neuen Welt, sei es durch die Berichte zurückkehrender Freiheitskämpfer oder durch Amerikaner wie Benjamin Franklin, schnell ein anderes, positives Bild schuf. Trotzdem gelang es spätestens im Vormärz, beispielsweise im deutschen Sprachraum mithilfe von Dichtern wie Nikolaus Lenau, „dem Amerikamüden“, oder Heinrich Heine ein negatives Amerikabild zu kreieren. Lenau war nach Amerika gekommen, um Geld zu verdienen, schaffte es jedoch nicht, wofür er gleich alles als „bodenlose Kultur“ verteufelte. Und für Heine war Amerika das Land, „wo der widerwärtigste aller Tyrannen, der Pöbel, seine rohe Herrschaft ausübt“. Ähnliche Aussagen kamen aus fast allen europäischen Ländern. Sie beeinflussten die allgemeine Stimmung, die zunehmend reaktionär und nationalistisch geworden war. Der Amerikaner wurde zum kulturlosen Barbaren, der sich den wilden Unternehmergeist des imaginierten Indianers zu eigen gemacht hatte. Statt absichernder Traditionen war jeder auf sich selbst gestellt und damit konnte man Angst schüren. Aussicht auf Einsicht  Erst 1871 setzte sich in Europa als größerer Staat Frankreich mit einem republikanischen Modell langfristig durch. Es dauerte nur zehn Jahre und die junge Republik schenkte ihrer um hundert Jahre älteren Schwester die monumentale Freiheitsstatue des Bildhauers Frédéric Auguste Bartholdi. Und auch wenn im Anschluss für viele Einwanderer die Statue als Symbol, als das erste Bild der neuen Heimat galt, so soll nicht vergessen werden, dass sie für die Republikaner beider Kontinente ursprünglich versinnbildlichen sollte, dass die USA trotz aller Widrigkeiten, trotz des einsamen Postens in der Weltgeschichte das Licht der Aufklärung so lange hochgehalten hatten. Sie haben aller Welt gezeigt, dass niemand einen Monarchen, einen Adel oder eine Kirche braucht, was im 18. und im 19. Jahrhundert viel bedeutet hat. Und wer weiß, vielleicht hätten die Europäer ohne die wahr gewordene Utopie USA, so wie sie nun schon seit 231 Jahren durchgehend existiert, niemals den Mut für so viele und schlussendlich erfolgreiche Anläufe gegen Absolutismus, Diktatur und im 20. Jahrhundert schlussendlich gegen den Faschismus aufgebracht. Das heutige Amerikabild  Dieser utopische Elan prägt jedoch schon lange nicht mehr Europas Amerikabild. In ihm vermischen sich nun alte Stereotypen von Kulturlosigkeit und Minderwertigkeit sowie die Kritik an der aktuellen amerikanischen Politik. Über 50 Prozent der Westeuropäer denken schlecht über Amerika und die Amerikaner, mehr als je zuvor. Es wird sowohl kritisiert, was Amerika tut, als auch, was es ist. Andrei Markovits, hält fest, dass der europäische Antiamerikanismus „ein allgemeines und umfassendes Missfallen [darstellt], das zumindest keine konkreten Gründe oder Anlässe hat“. Doch beruht die Kritik schon lange auf Gegenseitigkeit. Timothy Garton Ash fragt in der „Zeit“: Was ist eigentlich mit dem Anti-Europäismus der Amerikaner? Und kommt mit einer Reihe transatlantischer Vorurteile. Europäer seien „Eurowürstchen“. „Sie haben ihre Werte in multilateralen, transnationalen, säkularen und postmodernen Spielereien verloren. Statt für Verteidigung geben sie ihre Euros für Wein, Urlaub und aufgeblähte Wohlfahrtsstaaten aus. Und dann johlen sie von den Zuschauerrängen, während die USA das schwierige und schmutzige Geschäft erledigen, in der Welt für Sicherheit zu sorgen – auch für die Europäer.“ Was im westlichen Europa noch als unschicklich gilt, nämlich pro-amerikanisch zu sein, gilt jedoch nicht für manch neue östlich-europäische -Staaten. Doch Europa ist längst keine Einheit mehr, wenn es um „Amerika“ geht. In vielen osteuropäischen Staaten ist das Bild der USA ein weitaus pragmatischeres. Hier gilt Amerika seit 1989 auch als Befreier von den totalitären Regimen Moskaus. Man kann sagen, dass für viele Osteuropäer, die gerade erst im Aufbau ihrer bürgerlichen Gesellschaft begriffen sind, die USA vielleicht doch noch etwas Utopisches und Visionäres darstellen, wie natürlich die EU auch. Doch weigern sich viele ehemalige „Ost-Staaten“ an den oft polarisierenden Diskussionen teilzunehmen. Nicht umsonst sind die Pro-EU-Kräfte in Osteuropa gleichzeitig die proamerikanischsten. Und diese Staaten vergessen nicht, dass die Geschichte gezeigt hat, dass die USA die große Schwester der EU sind, das kann nicht einmal der virulenteste Antiamerikanismus -retuschieren.



Alexander Emanuely, geboren 1973, studierte Politik- und Theaterwissenschaft und ist als
Schriftsteller und Essayist tätig. Er verfasste unter anderem Beiträge für das „Jüdische Echo“ und „Jungle World“. Seit 1999 ist er Mitherausgeber der Zeitschrift „Context XXI“. 2006 erschien sein Jugendroman „Die Janitscharin“ (G & G, Wien). Zudem ist Emanuely wissenschaftlicher Mitarbeiter der psychosozialen Ambulanz ESRA. Er lebt in Wien.


Artikel erschienen in: REPORT. Magazin für Kunst und Zivilgesellschaft in
Zentral- und Osteuropa,November 2007
Link:REPORT online - Link:U.S.Embassy Vienna -